Den Vortrag habe ich zu einem Aufsatz ausgearbeitet. Er ist im Open Access hier verfügbar:
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Der Beitrag unterzieht auf Basis rezenter linguistischer Daten die Rolle, die Arnold Gehlen im Rahmen seiner Philosophischen Anthropologie der Sprache zuweist, einer Revision. Sie hat Auswirkungen auf das menschliche Selbst- und Weltverhältnis insgesamt.
In Gehlens Der Mensch ([1940] 1997) liegt DIE Sprachtheorie im Rahmen des Programms der Philosophischen Anthropologie vor (vgl. Fischer 2021, bes. 81): Gehlen entwickelt darin seine Sprachauffassung ausgehend von den anthropologischen Grundgedanken der Unspezialisiertheit des Menschen und der Notwendigkeit zur Entlastung von seiner „Reiz- und Eindrucksoffenheit“ (Mensch, 33). Solche Entlastung erfolgt durch die „Umarbeitung“ (ebd., 46) der Belastungen mit den Mitteln der Hand(lung), die sodann in den Leistungen des Auges aufgehoben werden, bis hin zur Sprache, die wiederum das Auge entlastet. Damit hat die Entlastung ihr Maximum erreicht (ebd., 49–50, 157–180): Die (autosemantischen) Wörter einer Sprache repräsentieren die von sensomotorischen Situationsdrücken entlastete Verfügbarkeit aspektvereinseitigter Wirklichkeitsausschnitte, indem sie symbolische Kristallisationen der handelnd erworbenen „Umgangswerte“ (z.B. ebd., 173–174) dieser Ausschnitte darstellen. Im grammatischen Satz können die kombinierten Wörter dann durch die wechselseitige Eingrenzung der aspektvereinseitigten Einzelvorstellungen einen Sachverhalt entfalten. In der generischen Kraft eines Satzes (z.B. "Regen bringt Abkühlung") „bleiben die Gedanken“ schließlich „bei sich“ (z.B. ebd., 274). Das Dargestellte meint hier keinen bestimmten wirklichen Sachverhalt mehr und ist daher von allen Situationsinteressen unabhängig geworden und dadurch „objektiv“.
Der Beitrag referiert rezente Erkenntnisse aus Korpus-, Psycho- und Neurolinguistik sowie Sprachtypologie, die eine Revision der philosophisch-anthropologischen Sprachtheorie in folgenden Punkten nötig machen (vgl. Kasper 2020):
(i) Studien zu grammatisch mehrdeutigen Sätzen haben gezeigt, dass es Biases im Sprachverstehen gibt, die als Instinkt(r)e(siduen) gedeutet werden können und dem direkten sensomotorischen Kontakt mit der Umwelt entspringen. Die Entlastung durch die Sprache reicht also nicht so weit, wie Gehlen behauptet. Es gibt Instinktverhalten, das „durch“ die Entlastungsstufen „hindurchläuft“.
(ii) In der überragenden Mehrzahl der Fälle führen die Instinkt(r)e(siduen) beim Verstehen mehrdeutiger Sätze zu deren richtiger Interpretation; hier würde also von etwas entlastet, das gar keine Belastung darstellt, sondern hochfunktional ist.
(iii) Wenn dagegen Sätze durch grammatische Symbole (Kasus/Kongruenz/Wortstellung) eindeutig sind, dann konkurrieren diese potentiell mit den instinktiven Biases um die Satzinterpretation. Es wird gezeigt, dass die grammatischen Symbole gegenüber den instinktiven Biases höhere Verbindlichkeit besitzen: Jene überschreiben diese, wo sie ihnen widersprechen. In allen Fällen leistet die Grammatik interpretative Gewissheit, mit den oder gegen die Biases. Für die Anschlussfrage, die für Gehlen außer Reichweite lag, warum die Interpretationen sprachlicher Äußerungen durch grammatische Symbole einen Grad an Gewissheit erlangen, den die Interpretationen nichtsprachlicher Ereignisse niemals erreichen können, wird eine Antwort vorgeschlagen, in deren Rahmen das Verhältnis zwischen der Unspezialisiertheit des Menschen, seinen Instinkt(r)e(siduen) und seiner Sprache neu modelliert (s. [i] und [ii]) wird.
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