Gäste: Thea Dorn, Herfried Münkler (EA 03.04.2011)
Inhalt: "Als sich zum Jahreswechsel das Volk Tunesiens gegen seine Machthaber erhob und den Diktator Ben Ali und seinen Clan verjagte, ging ein ungläubiges Staunen durch die westliche Welt. Revolte in einem arabisch-islamischen Land ohne fundamentalistisch-islamistische Aufrührer: Das war von niemandem erwartet worden. Die Politik reagierte irritiert, mit vorsichtiger Euphorie, da man ein Aufbrechen demokratischer Impulse erhoffte. Die Irritation in den westlich-demokratischen Gesellschaften wurde aber geradezu mit Händen greifbar, als der Furor der tunesischen Jasmin-Revolte alsbald übersprang, zuerst nach Ägypten, wo, nicht zuletzt durch kluge Zurückhaltung des Militärs, Präsident Mubarak zum Rücktritt gezwungen und seine Regierung weitgehend ersetzt werden konnte. Eine Übergangsregierung bereitet, so heißt es, jetzt freie Wahlen vor, eine Verfassung wird erarbeitet.
Doch kaum war der Aufstand auf Kairos Tahrir-Platz auf seinen Höhepunkten angelangt, folgten „Tage des Zorns“ im nahezu gesamten arabischen Raum, im Yemen, in Oman, in Bahrein begehrten und begehren die Menschen gegen die Potentaten auf, fordern demokratische Teilhabe am nationalen Wohlstand und soziale Sicherungen. Die Königreiche Marokko und Jordanien haben die Unruhen durch mancherlei Reformzusagen noch dämpfen können.
Aber vollends außer Kontrolle sind die Tumulte in Libyen geraten, wo in hochblutigen, bürgerkriegsähnlichen Kämpfen der Diktator Gaddafi gegen die Aufständischen um sein politisches Leben zittert. Nach Hunderten zählen nun die Toten, nach Hunderttausenden die Flüchtlinge und solche, die in ihrer Verzweiflung nicht wissen, wo sie sich in Sicherheit bringen können.
Niemand vermag heute zu sagen, wohin diese nahezu die gesamte arabische Welt erfassende emanzipatorische Rebellion, wohin der unbändige Volkszorn führen wird, ob er in einer wirklichen Revolution enden wird mit wachsenden demokratischen Strukturen oder in einer gewaltigen Anarchie. Noch klaffen auch die Abgründe überall.
Wenn schon die Geschicke von Rebellion und Rebellen nicht auf ein sicheres Gelingen hin gedacht werden können, so gibt der Beginn des Aufstandes die größten Rätsel auf. Wer oder was entzündete so plötzlich und offenbar ohne jede Vorwarnung die tunesische Stichflamme, die Arabien in Brand setzte? War, womit niemand gerechnet hatte, worauf kein Geheimdienst zuvor hatte aufmerksam machen können – war es gewissermaßen die Geschichte selbst, die den Prozess einer gewaltigen, offenbar unbemerkt seit Jahren und Jahrzehnten aufgestauten sozialen Druck-Entladung von vulkanischen Dimensionen auslöste? Da gab es kein Drehbuch, keine nach Plan handelnden Akteure – es gab spontane, massenhafte Aktion, die freilich, befördert von den jungen neuen Medien wie Internet, Facebook und Twitter, sich zu einem Ziel kanalisierte: den Sturz der Tyrannen.
Nicht wenige hierzulande fühlten und fühlen sich an den Fall der Berliner Mauer erinnert, an die Montagsdemonstrationen in Leipzig, von denen ein Signal zum Aufbegehren der DDR-Bürger ausging, das in kürzester Zeit zum Ende des kommunistischen Regimes führte. Auch damals war der Westen überrascht, die Menschen hatten ihr Schicksal selbst in die Hand genommen, die Geschichte, ihre und unsere Geschichte, nahm unverhoffte Wendung.
Und es war ja, beileibe, nicht das erste Mal, dass die Ereignisse die Gewissheiten der Welt überrollten. Die Unvorhersehbarkeit des historischen Prozesses – sollte man sie sich nicht wenigstens eingestehen? Höchst selten sind bedeutende geschichtliche Umbrüche vorhergesehen worden. Das gilt auch und gerade für die letzten Jahrzehnte. Die Revolte von 1968, die islamische Revolution im Iran, den Zusammenbruch des Ostblocks, die Weltfinanzkrise hatte man zuvor nicht im Visier. Und mit dem Sturm, der jetzt durch die arabische Welt fegt, hat natürlich ebenso wenig auch nur ein Mensch gerechnet. Ganz offenbar leben wir in einer Zeit notorischer Überschätzung der prognostischen Kompetenzen. In einer Welt des beschleunigten Wandels muss über das altbekannte Problem der Torheit einer Politik, die nur mit kurzen Fristen rechnet, wieder nachgedacht werden. Was wird aus der Kunst des Möglichen bei soviel Blindheit für das angeblich Unmögliche? Muss der Zusammenhang von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont neu justiert werden?
Über diese Fragen setzen sich Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski mit ihren Gästen auseinander, mit Thea Dorn, der Philosophin und Schriftstellerin, und mit Herfried Münkler, dem wohl profiliertesten Politologen Deutschlands." (Text: ftsmedia.de)
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