Tausenden von Menschen wurde in der Schweiz im 20. Jahrhundert grosses Unrecht getan. Sie wurden entrechtet, erniedrigt und missbraucht. Nach Jahrzehnten entschuldigte sich die Schweiz, arbeitete auf und leistete Wiedergutmachung. Ein historischer Erfolg? Oder ein fauler Kompromiss?
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Mario Delfino erinnert sich an glückliche erste Jahre in einem Waisenhaus in Norditalien. Dann adoptierte ihn ein kinderloses Ehepaar aus dem zürcherischen Thalwil. Für den Fünfjährigen begann ein Albtraum. Seine Adoptivmutter sperrte ihn stundenlang in sein Zimmer ein, schlug ihn, erniedrigte ihn. Mit 13 wurde alles noch schlimmer. Er klaute mit zwei Kollegen eine Geldkassette, erschrak über den eigenen Mut und gab alles zurück. Trotzdem waren sich Jugendanwaltschaft und Adoptivmutter schnell einig, dass der Junge weg muss: in ein Heim für Schwererziehbare im luzernischen Knutwil, das religiös geführt war. Delfino geriet in die Hände eines pädophilen Sadisten.
Mindestens 60'000 Menschen wurden in der Schweiz im 20. Jahrhundert Opfer von administrativen Versorgungen. Dazu kommen Heim- und Verdingkinder. Und Opfer von Übergriffen in kirchlichen Institutionen. Sie wurden entrechtet, erniedrigt und missbraucht. Was diese Menschen erlebten, prägte sie, zeichnete sie für ihr Leben. Was damals passiert ist, war lange nur bruchstückhaft bekannt. Es gab Berichte über Einzelschicksale, aber das Ausmass des begangenen Unrechts kannte die Schweiz nicht. Politik, kirchliche Institutionen und Bauernvertreter wehrten sich jahrzehntelang erfolgreich gegen jede ernsthafte Form der historischen Aufarbeitung und wiesen eine finanzielle Wiedergutmachung weit von sich. «Da habe ich mir geschworen, dass ich dies ändern möchte», sagt Guido Fluri. Fluri war selber ein Heimkind, wurde später ein sehr erfolgreicher Unternehmer und machte sich den Kampf für ehemalige Heim- und Verdingkinder zur Lebensaufgabe. Fluri sammelte im Jahr 2014 in Rekordzeit über 100'000 Unterschriften für eine eidgenössische Volksinitiative: «Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen (Wiedergutmachungsinitiative)». Später zog Fluri seine Initiative zugunsten eines indirekten Gegenvorschlages zurück. Das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG) entstand.
Davon profitierte auch Berthy Schnegg, die fünf Jahre alt war, als sich ihre Eltern scheiden liessen. Die Geschwister wurden auseinandergerissen. Berthy Schnegg landete als Verdingkind im Berner Oberland. Misshandlung und Erniedrigung prägten ihre Jugend. Und als sie in die Pubertät kam, wurde alles noch schlimmer. Einer der Söhne des Bauern war 14 Jahre älter als sie und begann, sie zu bedrängen. Eines Nachts stand er in ihrem Zimmer und ging weiter. «Ich musste es über mich ergehen lassen», sagt Berthy Schnegg. Die Schweiz hat dieses dunkle Kapitel ihrer Geschichte aufgearbeitet. Es gab offizielle Entschuldigungen. Und einen «Solidaritätsbeitrag» von 25'000 Franken pro Opfer. Ende gut, alles gut? Das finden nicht alle Betroffenen. «DOK» hat auch mit solchen geredet, die finden, die Aufarbeitung und die einmaligen 25'000 Franken seien kein historischer Erfolg, sondern ein fauler Kompromiss gewesen.
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