Beim Blick auf Frankreich reibt mancher sich die Augen. Während Emmanuel Macron bei seiner Wiederwahl zum Präsidenten vor einigen Wochen noch die Konkurrenz der erstarkten Rechtsnationalen Marine Le Pen zu spüren bekam, kommt die Gefahr für den Liberalen bei der ersten Runde der Parlamentswahl an diesem Sonntag von Links. Am Morgen öffneten die Wahllokale im Land, nachdem in einigen Überseegebieten wegen der Zeitverschiebung bereits am Samstag gewählt worden war.
Dem linken Urgestein Jean-Luc Mélenchon war der Coup gelungen, das zersplitterte linke Lager hinter sich zu vereinen und zum Angriff auf Macron überzugehen. Als gewiefter Redner und Stratege profilierte er sich in einem Wahlkampf, aus dem Macron sich bis kurz vor Schluss heraushielt. Nun muss er um seine absolute Parlamentsmehrheit bangen.
Als Drittplatzierter schied Mélenchon trotz starker 22 Prozent bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl aus, gab sich aber nicht geschlagen. «Wählt mich zum Premierminister», verkündete der 70-Jährige prompt, und erklärte die Parlamentswahl kurzerhand zur dritten Wahlrunde, um über die Machtverhältnisse in Frankreich zu entscheiden. Dabei wird die Parlamentswahl eigentlich als Bestätigung der Präsidentschaftswahl gesehen und liegt bewusst kurz danach.
Die Umfragen sehen das neue Linksbündnis enorm im Aufwind. Erhielte es eine Mehrheit, wäre Macron faktisch gezwungen, einen Premier und eine Regierung dieses Lagers zu ernennen. Und auch bei einer relativen Mehrheit für sein Lager müsste Macron Kompromisse eingehen. Um wenig Angriffsfläche zu bieten, wartete er lange mit der Ernennung der neuen Regierung und hielt sich, obwohl er sonst um eloquente Reden und Visionen nicht verlegen ist, zu seinen konkreten Plänen bedeckt. In die Defensive trieben dann das Regierungslager Vergewaltigungsvorwürfe gegen einen neuen Minister, dann folgte das Chaos am Stade France beim Champions League-Endspiel, nach dem der Innenminister patzte. Kein guter Start für Macron.
Wohl sicher ist, dass Deutschland und Europa weiter mit einem verlässlichen Partner Frankreich rechnen können. An seinem pro-europäischen Kurs und dem Schulterschluss mit Berlin wird Macron wohl keine Abstriche zulassen. Auch wird Frankreich im Ukraine-Konflikt fester Bestandteil der geschlossenen Front des Westens gegen den Aggressor Russland bleiben.
Unterdessen zeichnet sich ein Tiefstand bei der Wahlbeteiligung ab, nur noch 45 bis 49 Prozent der Menschen wollen ihre Stimme abgeben, sagte der Direktor des Umfrageinstituts Ipsos, Brice Teinturier, am Samstag der Zeitung «Le Parisien». «Für die Franzosen ist die Präsidentschaftswahl die entscheidende Abstimmung», sagte Teinturier. Sie sähen kaum einen Nutzen darin, die Karten bei der Parlamentswahl gleich wieder neu zu mischen. Dennoch könne Macron sich darauf nicht stützen, denn das Vertrauen in die Regierung sei gering. Bei der Absicherung der Kaufkraft - dem Kernthema von Mélenchon - handele sie aus Sicht der Bevölkerung zu langsam, sagte der Ipsos-Chef.
Und weshalb ist es so ruhig geworden um Marine Le Pen, die es in der Stichwahl ums höchste Staatsamt auf über 40 Prozent brachte? Grund dafür ist kein plötzlicher Stimmungswandel in Frankreich - die Rechte hat weiter viel Unterstützung - sondern die Besonderheit der Parlamentswahl. Im Gegensatz zur Präsidentschaftswahl zählt hier auch die lokale Verankerung, und die ist keine Stärke Le Pens. Vergeben werden die 577 Parlamentssitze nach einem komplizierten Mehrheitswahlrecht. Ins Gewicht fallen am Ende nur die Stimmen für den Gewinner im jeweiligen Stimmbezirk. Und dabei wird für Le Pen nur ein moderater Zuwachs an Sitzen vorausgesagt.
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