§ 110 FGO: wir unterscheiden formelle und materielle Rechtskraft. Formelle Rechtskraft bedeutet, dass die Entscheidung nicht mehr anfechtbar ist. Die Rechtsmittelfrist ist abgelaufen. Spannender ist die materielle Rechtskraftwirkung: welche Entscheidungspassagen sind verbindlich zwischen den Beteiligten (Finanzamt und Kläger) über den in der Klage genannten Zeitraum hinaus verbindlich festgestellt? Die Rechtskraftwirkung tritt nur hinsichtlich der Punkte ein, über die entschieden wurde - nicht hinsichtlich derer, die nach dem Klägerwillen oder Klägerantrag hätten entschieden werden sollen. Aber was ist das genau? Was ist der Entscheidungsgegenstand des Urteils? Es ist also nicht der Klagegegenstand nach § 65 FGO und auch nicht der Klageantrag des Klägers. Es ist das, worüber das Gericht entschieden hat - selbst wenn es einen falschen Sachverhalt seiner Entscheidung zugrunde legt. Aber was ist das genau und wo steht das? Aus dem Tenor ergibt sich der jedenfalls nicht bei einem Anfechtungsurteil - anders bei Feststellungsurteilen mit stattgebendem Tenor oder bei Verpflichtungsklagen mit stattgebendem Inhalt. Bei allen anderen Entscheidungen lässt sich der Entscheidungsgegenstand nicht oder nicht allein aus dem Tenor entnehmen. Tatbestand und Entscheidungsgründe erwachsen nicht in Rechtskraft. Aber aus dem Tenor und dem Tatbestand und den Entscheidungsgründen ist der Entscheidungsgegenstand herauszulesen. Doch wie geht das? Wer legt dann verbindlich fest, was Entscheidungsgegenstand ist? Beispiel: im Rechtsstreit 1 geht es um die Frage, wo der Leistungsort des Unternehmens ist. Der Kläger glaubt im Ausland. Gegen die Änderungsbescheide legt der Kläger Klage ein und verliert. Die Anfechtungsklage wird abgewiesen. Einige Jahre später bestreitet das FA die Unternehmereigenschaft des Klägers und bestreitet die Vorsteuererstattungsansprüche. Geht das? Ist nicht zuvor rechtskräftig die Unternehmereigenschaft und der Leistungsort vom FG trotz abweisendem Tenor in der Anfechtungsklage gegen die Umsatzsteuerbescheide festgestellt worden? Und darf das FG in einem späteren weiteren Rechtsstreit in einem Urteil 2 nun zu Recht oder zu Unrecht von einer fehlenden Unternehmereigenschaft nach § 2 I UStG ausgehen oder ist es wegen der materiellen Rechtskraft an die Entscheidungsgründe im Urteil 1 gebunden? Gehören zum Umfang der materiellen Rechtskraft auch Vorfragen, die ggf. inzident in dem früheren Urteil geprüft wurden? Klar ist: selbst wenn die frühere Entscheidung des FG falsch war: sie erwächst in Rechtskraft. Trotz Abschnittsbesteuerung.
Dürfen diese materiell rechtskräftigen Entscheidungen mit den Entscheidungsgegenständen später von dem Finanzamt in einem anderen Veranlagungszeitraum bei gleichbleibendem Sachverhalt und gleicher Rechts- und Gesetzeslage anders beurteilt werden?
Das FG darf natürlich ein einem neuen Folgeverfahren die materielle Rechtskraft nicht übersehen oder übergehen - das wäre ein schwerwiegender Fehler wegen des Verstoßes gegen die materielle Rechtskraftwirkungen nach § 110 FGO und damit ein Verfahrensfehler nach § 115 II Nr. 3 FGO, der (bei sachgerechter Rüge) zur Aufhebung und Zurückverweisung in der Nichtzulassungsbeschwerde führen würde.
Aus der materiellen Rechtskraft ergeben sich daher eine Vielzahl von Folgewirkungen und Verteidigungsmöglichkeiten. Das FA kann dann beispielsweise auch nicht ein Steuerstrafverfahren gegen den StPfl einleiten mit der Behauptung, er habe zu Unrecht Vorsteuern gelten gemacht - er sei doch kein Unternehmer. Selbst wenn diese Ansicht steuerlich zutreffend wäre, wäre Bindungswirkung durch die Entscheidung des FG im ersten Verfahren eingetreten. Das Steuerstrafverfahren müsste schnellstens wieder eingestellt werden, § 170 II StPO. Wegen des rechtskräftig festgestellten Sachverhalts dürfte der StPfl auch künftig davon ausgehen, dass er Unternehmer nach § 2 I UStG ist - bis er das Unternehmen aufgibt.
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